Was die Polen heute über Solidarnosc denken

Dieser Tage jährt es sich zum 25. Mal, dass in Polen die Gewerkschaft Solidarnosc gegründet wurde. Sie krempelte das ehemals sozialistische Land gründlich um und war der Anfang vom Ende des Regimes. Heute schätzen vor allem junge Polen die Bewegung.

Von Thomas Rautenberg, ARD-Hörfunkstudio Warschau

Erfolg oder Misserfolg – Anita, eine Mittdreißigern aus Warschau, bringt die Stimmungslage vieler Polen zum 25.Jahrestag der Solidarnosc-Streiks in der Danziger Leninwerft auf den Punkt: „Mir scheint, die Ideale waren sehr edel, aber die Realität passt nicht dazu. Was wir heute sehen, ist bestimmt nicht dass, wofür wir vor 25 Jahren kämpften.“

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Ernüchterung nach 25 Jahren Solidarnosc

Die Enttäuschung, die aus Anita spricht, kommt nicht von ungefähr. Als Absolventin der renommiertesten Handelshochschule des Landes, hatte sie einen guten Job, doch heute ist sie arbeitslos, so wie fast 20 Prozent ihrer polnischen Landsleute. Die 53jährige Frau Krzystof gibt zu: „Ja, Solidarnosc hat uns und den anderen in Osteuropa die Freiheit, die Demokratie gebracht. Und auch die bunten Geschäfte.“ Sie zuckt enttäuscht mit den Schultern: „Okay, man kann alles kaufen, aber was haben wir davon, wenn wir es uns nicht leisten können? Was bringt uns der Reisepass in der Schublade, wenn kaum jemand verreisen kann? Ich bin mir sicher: Wenn die Leute gewusst hätten, wie es heute aussieht, wäre Solidarnosc nicht gegründet worden, zumindest wäre das nicht passiert, was passiert ist.“

„Wir haben ein Paradies erwartet“

Nach einer jüngsten Umfrage sind zwei Drittel der polnischen Bevölkerung überzeugt, dass die Solidarnosc mit ihren Streiks 1980 den richtigen Weg eingeschlagen hat. Als größten Erfolg der Revolutionsbewegung sehen übrigens 52 Prozent der Polen die spätere Pressefreiheit an, gefolgt von Polens Beitritt zur Europäischen Union.

Ebenso deutlich werden allerdings auch die Niederlagen von Solidarnosc benannt: Nämlich, die Arbeitslosigkeit, die 85 Prozent der Polen für die schlimmste Geißel halten, sowie Armut und Korruption. Eine junge Warschauerin: “Wir haben ein Paradies erwartet, ganz einfach. Das ist ganz logisch – denn wenn man in der Hölle lebt, muss man, um zu überleben, auf ein Paradies warten. Wir erwarteten, dass wir das westliche Lebensniveau erreichen, aber dass wir uns auch das gute Sicherheitsgefühl der staatlichen Betreuung bewahren. Und natürlich erwies sich das als unmöglich.“

Junge Polen schätzen die Solidarnosc-Bewegung

Wobei auffällt, dass vor allem die jungen Polen viel optimistischer auf die 80er Jahre schauen, als deren Eltern, die vielfach selbst in erster Reihe der Solidarnosc-Bewegung gestanden haben. Agnieszka beispielsweise hat ihr Studium gerade absolviert und kann den sehnsuchtsvollen Blick zurück vieler Älterer nicht verstehen: „Man kann nicht alles auf einmal ändern. Im Moment gibt es tatsächlich keine Arbeit, aber es ist beruhigend zu wissen, dass man ins Ausland fahren kann, nicht einmal weit weg, und gutes Geld verdienen kann. Also, ich finde, mir geht es hier sehr gut. Ich glaube, die Leute wollten damals sehr viel. Sie haben ein besseres Leben erwartet, aber das gibt es wohl nirgendwo.“

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