„Abhörwahn“ in der Türkei?

Telefone anzapfen, um Terrorgefahren abzuwehren und Verbrechen aufzuklären – darüber wird nicht nur in Deutschland debattiert. In der Türkei dürfen Telefone angeblich ohne richterliche Erlaubnis abgehört werden. Die Opposition wirft der Regierung „Abhörwahn“ vor. Sie ist aber auch nicht davor gefeit, ihm selbst zu erliegen.

Von Ulrich Pick, ARD-Hörfunkstudio Istanbul

Mit Kritik an Behörden des Landes hält man sich am Bosporus gewöhnlich sehr zurück. Doch diesmal ist es anders. „Jetzt erfahren wir, was ein Polizeistaat ist“, titelte Anfang der Woche die Tageszeitung „Vatan“ und legte dann nach mit der Überschrift: „Das ist kein Abhören mehr, das ist Verfolgung.“

Hintergrund dieser Schlagzeilen sind Enthüllungen, nach denen Polizei und Geheimdienste in der Türkei schon seit mehr als einem Jahr die Befugnis haben sollen, die eigenen Bürger flächendeckend abhören zu dürfen, ohne sich dafür im Einzelfall eine richterliche Erlaubnis besorgen zu müssen. Die Genehmigung für das Anzapfen sämtlicher Festnetztelefone und Handys aller Anbieter nebst Fax- und SMS-Verkehr habe sich – so heißt es – Polizeigeheimdienstchef Ramazan Akyürek bereits im Januar 2007 geben lassen und zwar mit Billigung der Regierung.

Alles nur zur Terror- und Verbrechensbekämpfung?

Als Begründung wurde Terrorgefahr durch Gruppen wie die PKK angegeben. Während die Zeitung „Vatan“ beklagt, dass es weltweit kein zweites Land gebe, in dem die Polizei solch umfassende Schnüffel-Befugnisse habe wie in der Türkei, hält der zuständige Minister für Verkehr und Information, Binali Yilderim, die ganze Sache für übertrieben: „Es wird doch behauptet, alle 70 Millionen Bürger würden abgehört. Das ist in der Praxis unmöglich. Das geht gar nicht. Durch diese Struktur wurden in jüngster Zeit viele Fälle aufgeklärt, zum Beispiel das Attentat auf Hrant Dink oder der mehrfache Mord in einem christlichen Verlag in Malatya.“

Angriff auf die Privatsphäre

Was der Minister als mehr oder weniger normal ansieht, bewerten Bürgerrechtler als bedenklich. So spricht der Türkische Menscherechtsverein IHD von einem Angriff gegen das Menschrecht auf eine geschützte Privatsphäre. Zudem verstoße die jetzige Praxis gegen die gesetzlichen Anordungen für Polizei und Geheimdienst.

Für die oppositionelle kemalistische CHP ist das alles ein gefundenes Fressen, um der regierenden islamisch-konservativen AKP die Leviten zu lesen und ihr „Abhörwahn“ vorzuwerfen. So monierte der CHP-Vorsitzende Deniz Baykal: „Das ist ein neues Abhörgeflecht, ein neues Gesetz, fernab aller normalen Institutionalisierung, direkt an den Ministerpraesidenten gebunden, umfangreich und mit High-Tech ausgestattet. Dort sind 5000 Personen im Abhördienst beschäftigt. 5000 Personen hören uns ab.“

Handy nicht abgeschaltet

Mittlerweile hat der Bazillus eines Abhörwahns auch die Opposition selbst erfasst. CHP-Vizechef Önder Sav hatte jüngst behauptet, er sei beim Treffen mit einem Provinzgouverneur abgehört worden. Unangehme Einzelheiten der Unterredung fanden sich nämlich Wort für Wort in der islamischen Zeitung „Vakit“ wieder.

Doch nicht die vom Oppositionspolitiker beschuldigte Regierung stand letztlich hinter der angeblichen Schnüffelei, sondern er selbst. Denn der entsprechende „Vakit“-Redakteur sagte, er habe Sav kurz vor dem Treffen angerufen und dieser habe dann schlicht vergessen, sein Handy abzuschalten. Die angesichts der Vorwürfe georderte Telekom-Rechnung gab denn auch dem Journalisten Recht.

Mittlerweile ist ein Gerichtsbeschluss ergangen, der die generelle Abhörbefugnis einschränkt.

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