„Kinderkrippen schaden einem Kind nicht“

Kinderkrippen schaden einem Kind nicht – vorausgesetzt, die Eltern bauen die Fremdbetreuung in ihre Erziehung ein. Diese Meinung vertritt die Krippenforscherin Lieselotte Ahnert, Professorin für Entwicklungsforschung an der Universität Köln. Die ostdeutsche Psychologin untersuchte schon zu DDR-Zeiten die Kinderbetreuung in Ost und West. Nach der Wende hat sie unter anderem drei Jahre am National Institute of Child Health in Washington geforscht. Ihre beiden in den 80er Jahren geborenen Kinder ließ Ahnert von einer Kinderfrau zu Hause betreuen, weil ihr die staatliche Kinderbetreuung in Ostberlin „damals einfach zu schlecht war“.

tagesschau.de: Frau Ahnert, Gegner eines Ausbaus der Krippenbetreuung warnen: In den ersten drei Lebensjahren brauche ein Kind die ständige Betreuung durch die Mutter, weil ansonsten seelische und geistige Schäden drohten.

Prof. Lieselotte Ahnert: Diese Argumentation kommt aus der Bindungsforschung und ist schon 50 Jahre alt. Man hat ursprünglich geglaubt, dass die ausschließliche Beziehung zwischen Mutter und Kind das Beste sei. Und natürlich ist das Kind auf die liebevolle, konstante Zuwendung der Mutter angewiesen. In der modernen Forschung ist es aber absolut unstrittig, dass die Autonomiebestrebungen des Kindes und der Kontakt zu anderen Personen genauso wichtig sind.

tagesschau.de: Das konservative Familiennetzwerk weist darauf hin, dass die Krippe einjährige Kinder überfordere. In dem Alter entstehe zwar erstmals Interesse an anderen Kindern, aber nur kurzzeitig und in Anwesenheit der Mutter.

Ahnert: Ab dem 18. Monat wird das Kind als Spielpartner wichtig, weil es Impulse auslöst, die Erwachsene gar nicht geben können. Gerade in den ersten Jahren müssen Kinder mit vielen Missverständnissen kämpfen. Sie geraten in Konflikte mit anderen Kindern – müssen aber einen Kompromiss finden, damit sie nicht den Kontakt zu den anderen verlieren. Das führt zu Aha-Erlebnissen, die das Kind voranbringen. In Beziehungen zu einem Erwachsenen besteht hingegen von vornherein ein Gefälle. Das Kind akzeptiert einfach, dass er kompetenter ist.

tagesschau.de: Aber genügt nicht der Spielplatz statt der Krippe, um andere Kinder zu treffen?

Ahnert: Es ist nicht bekannt, dass es Kindern schadet, wenn sie im frühesten Alter keine regelmäßigen Kontakte zu anderen Kindern haben. Aber wir wissen, dass Kleinkinder schneller lernen sich in andere Menschen hineinzuversetzen, wenn sie regelmäßig Kontakt zu anderen Kindern haben oder mit Geschwistern zusammenleben.

„Öffentliche Betreuung in Erziehung integrieren“

tagesschau.de: Die Schwedin Anna Wahlgren, deren Erziehungsratgeber auch in der Bundesrepublik ein Beststeller ist, bezeichnet ihre Heimat als abschreckendes Beispiel für Deutschland. Die seit 25 Jahren übliche öffentliche Betreuung von Kleinkindern mache diese freudlos und sei auch verantwortlich für psychische, Drogen- und Gewaltprobleme in späterem Alter.

Ahnert: Es kommt auf die Balance zwischen Fremd- und Familienbetreuung an. Unser Ansatz geht dahin: Öffentliche Betreuung kann eine sehr gute Ergänzung sein, wenn die Familie sie in ihre Erziehung integriert. Man muss genau ausloten: Was verkraftet mein Kind? Wann ist der Stresspegel so hoch, dass es beim Abholen aus der Einrichtung quengelt und am Abend nichts mehr mit ihm anzufangen ist? Dann muss man als Mutter die Betreuungszeit verkürzen. Aber dafür sind unsere Systeme noch zu unflexibel. Das National Institute of Child Health in Washington hat seit 1991 an 1000 Kleinkindern untersucht, ob Fremdbetreuung schadet und wie sie sich überhaupt auf die Mutter-Kind-Beziehung auswirkt. Unter den Forschern waren Gegner und Befürworter von Kindertagesstätten und alle sind zu dem Schluss gekommen: Es gibt keinen negativen Einfluss auf das Verhältnis zwischen Mutter und Kind, wenn es der Mutter gelingt, die Intimität aufrechtzuerhalten.

tagesschau.de: Entscheidend für die Entwicklung eines Kindes ist also nicht die Krippe oder der Kindergarten, sondern der Einfluss der Familie?

Ahnert: Die öffentliche Einrichtung ist nicht schuld daran, wenn etwas in der kindlichen Entwicklung schief läuft. Die Häufigkeit neuer Kinderkrankheiten steigt im Osten ebenso wie im Westen, wo es sehr wenige Krippenplätze gibt. Unsere Kinder haben zunehmend Aufmerksamkeitsdefizite, sie sind emotional unausgeglichen. Da stellt sich schon die Frage, was in den Familien passiert.

„Eingewöhnungsprogramme ernst nehmen“

tagesschau.de: Was läuft in einem Kind ab, das von der Betreuung bei der Mutter in eine Krippe wechselt?

Ahnert: Durch die Trennung von der Mutter wird erst einmal das Wohlbefinden gestört, hinzu kommen die vielen, neuen Anregungen in der Gruppe. Das bedeutet natürlich Stress für das Kind. Wir wissen, dass Mütter, wenn sie ihre Kinder in die Krippe bringen, eigentlich nicht mehr viel tun können. Das Kind muss eigene Bewältigungsmechanismen entwickeln. Deshalb predigen wir schon seit Jahren, Eingewöhnungsprogramme ernst zu nehmen. Das Kind stundenweise in die Krippe zu bringen, es langsam an Routinen wie Essen und Schlafen heranzuführen. Das bedeutet natürlich einen gewissen Aufwand. Aber bei verkürzter Eingewöhnung oder gar dem Verzicht darauf beobachten wir sehr oft, dass die Kinder häufiger krank werden.

tagesschau.de: Die Trennung durch die Krippe ist nicht nur für das Kind hart, auch die Mutter leidet anfangs darunter. Muss sie befürchten, einen Teil ihrer Beziehung zur Tochter oder zum Sohn an die Erzieherin zu verlieren?

Ahnert: Selbst kleine Kinder betrachten die Erzieherinnen nicht als Mütterersatz, weil sie begreifen, dass deren Aufmerksamkeit auch anderen Kindern gilt. Die Beziehung zu einer Betreuungsperson kann durchaus von körperlicher Nähe geprägt sein. Sie wird aber eher von anderen Funktionen bestimmt. Die Erzieherin unterstützt die Aktivitäten, assistiert und hilft, wenn mal ein Missgeschick passiert. Das kann sie am besten, wenn sie nicht zehn Kinder, sondern zwei bis drei betreut. Bei der Mutter hingegen erlebt das Kind von Anfang an, dass diese seine Emotionen reguliert. Das schafft eine lebenslang einzigartige Beziehung.

Weiter in Teil 2: Was die Forscherin Liselotte Ahnert zum Vergleich von west- und ostdeutschen Müttern sagt und was sie von den Kinderkrippen der DDR hält.

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