„Das erste Frühwarnsystem sind die Mitschüler“

Vor dem Hintergrund der jüngsten Vorfälle in Köln wächst die Angst vor möglichen Amokläufen an deutschen Schulen. Wie kann man die Gefahr rechtzeitig erkennen und was kann man dagegen tun? tagesschau.de sprach darüber mit dem Schulpsychologen Klaus Seifried.

tagesschau.de: Hinweise auf einen angeblich bevorstehenden Amoklauf haben für Aufregung gesorgt. Finnische Polizisten hatten die Ankündigung im Internet in einem Chat entdeckt und die deutschen Behörden informiert. Gibt es für Sie als Schulpsychologen Unterschiede zwischen einer mündlich gegenüber Mitschülern geäußerten Drohung und einem Hinweis im Internet?

Klaus Seifried: Wir müssen alle Drohungen ernst nehmen, egal wie sie geäußert oder ausgesprochen werden – ob im Internet oder in der Schule. Allerdings gibt es dabei immer auch viele Nachahmer. Das sind in der Regel Hilferufe von Jugendlichen, die nach Aufmerksamkeit suchen. Man muss da sehr vorsichtig sein, weil durch zu viel öffentliche Diskussion der Nachahmungseffekt noch größer wird.

tagesschau.de: Wie kann man mögliche Gewalttäter frühzeitig erkennen?

Seifried: Das ist sehr schwierig. Schüler sollten schauen, ob sich ein Mitschüler in der Klasse in einer schwierigen Lage befindet. Lehrer und Eltern sollten einen Blick auf die Kinder haben und sie gegebenenfalls direkt ansprechen. Das erste Frühwarnsystem sind die Mitschüler, das zweite die Eltern und das dritte die Lehrer.

tagesschau.de: Wie sollten sich Eltern und Lehrer in einem Verdachtsfall verhalten?

Seifried: Meine Empfehlung ist, dass sich Eltern und Lehrer, wenn sie auf einen auffälligen Schüler aufmerksam werden, sofort Hilfe holfen – bei der Schulleitung, bei Schulpsychologen, oder bei den Präventionsbeauftragten der Polizei und sich dort beraten lassen. Sie sollten nicht versuchen, das Problem alleine zu lösen. Es ist oft eine psychiatrische oder psychotherapeutische Frage aber manchmal auch eine Sache der Polizei, zum Beispiel dann, wenn Waffen im Spiel sind.

tagesschau.de: Was müsste Ihrer Meinung nach an Schulen noch verändert werden, um Gewalttaten zu verhindern?

Seifried: Es gibt das typische Profil eines Amokläufers. Das sind in der Regel männliche Jugendliche in einer verzweifelten Lage und sozial isoliert. Sie haben Misserfolg in der Schule und wissen nicht mehr weiter. Solche Jugendliche müssen aufgefangen werden. Dazu gehört, dass Lehrer regelmäßig Gespräche mit ihren Schülern führen. Auch eine regelmäßige psychologische Unterstützung ist wichtig. Und hier herrscht in Deutschland ein echter Mangel: Wir haben die schlechteste schulpsychologische Versorgung in Europa. In Finnland werden 800, in Schweden 2000 Schüler von einem Schulpsychologen betreut. In Deutschland sind es im Durchschnitt 12.000.

tagesschau.de: Heißt das, jede Schule sollte zum Beispiel einen eigenen Schulpsychologen bekommen?

Seifried: Ich denke, das wäre wichtig, um Lehrer zu entlasten. So könnte man Schulversager frühzeitiger betreuen sowie Schüler mit Ängsten und Aggressionen auffangen – Jahre, bevor es zu einer Gewalttat kommt. Grundsätzlich verhindern kann man so eine Tat nicht, aber man kann im Vorfeld viel dafür tun, dass es nicht passiert.

tagesschau.de: Bei dem Vorfall an einem Kölner Gymnasium schaltete die Schule, die Polizei ein. Nach der Vernehmung beging ein Jugendlicher Selbstmord. Was wurde da falsch gemacht?

Seifried: Es war ein Fehler, dass bei dem Verhör kein Psychologe dabei war – und auch, dass der Jugendliche danach nach Hause geschickt wurde, ohne die Eltern zu informieren und ohne dass eine psychologische Betreuung stattfand.

tagesschau.de: Hätte ein Psychologe den Selbstmord verhindern können?

Seifried: Das möchte ich so nicht sagen, aber, wenn dieser Junge begleitet worden wäre, hätte der Suizid vermutlich nicht stattgefunden.

tagesschau.de: Welche Rollen spielen das Internet und Chatrooms für mögliche Gewalttäter?

Seifried: Das Internet ist ein Medium, das sofortigen Zugang ermöglicht. Ein Schüler kann schlecht in der Tagesschau oder in einer Zeitung ein Interview geben. Er kann aber sofort seine Meinung im Internet präsentieren. Zum anderen ist es ein Medium, das von Jugendlichen sehr geschätzt und genutzt wird. Hinzu kommt, dass Erwachsene und Eltern kaum Chats besuchen.

tagesschau.de: Sind Amok-Drohungen zu einer Art Trend geworden – so, wie man früher Schüler und Lehrer mit Bombendrohungen erschreckte? Hat sich vielleicht nur die „Methode“ geändert?

Seifried: Das ist richtig, da hat sich die Methode verändert. Und dadurch, dass die Medien immer wieder sofort und ausführlich darüber berichten, hat sich natürlich auch die Geschwindigkeit der Nachahmung verändert.

Die Fragen stellte Anna Grabenströer, tagesschau.de.

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