Ohne Schulabschluss keine Perspektive – Die Bildungspolitik wacht auf

Wichtiger als Strafen und Ausweisungen ist beim Kampf gegen die Jugendgewalt sicher die Prävention und bei Ausländern die Integration. Auch deshalb hat das Bundeskabinett in dieser Woche eine Qualifizierungsinitiative gestartet. Ein Ziel: Die hohe Zahl von Schulabbrechern zu senken. Acht Prozent eines Jahrsganges verlassen die Schule ohne Abschlusszeugnis. Unter den Migranten sind es sogar über 17 Prozent. Auch die beiden Münchener U-Bahn-Schläger waren auf der Schule gescheitert. Eine Zeitbombe. Jahrelang haben sich die Länder kaum um Schwänzer und Abbrecher gekümmert, jetzt scheinen einige endlich aufzuwachen. Dabei fällt auf, dass die Schulen dabei viele Aufgaben von Eltern übernehmen müssen, wie etwa Frühstück machen.

Von Andrea Zückert und Christian F. Wulf

Gelsenkirchen, Stadtteil Bulmke. 60 Prozent Ausländeranteil, Arbeitslosigkeit: 20 Prozent. Die Landesregierung sieht einen „besonderen Erneuerungsbedarf“.

In der Emmastraße eine Hauptschule – neun Prozent Schulabbrecher, zwei Drittel davon Ausländer.

Stimmen auf dem Schulhof:

„Wir waren schon öfter bei der Polizei.“

„Das ist hier normal an der Hauptschule.“

„Wer der Stärkste ist, der hat auch hier das Sagen.“

Kein leichtes Terrain für Lehrer Peter Rosenow. Mit Höflichkeit und Regeln gegen das Chaos in der Klasse:

Peter Rosenow, Lehrer: „Sehr viele Schüler sind undiszipliniert. Probleme, die wir heute haben, die gab es in dem Maße früher nicht. Sie sind nicht unbedingt immer motiviert zu lernen.“

Ortswechsel. Aachen. Hauptschule an der Aretzstraße. Der Tag beginnt mit einem Frühstück, wer nicht zur Schule erscheint, wird angerufen – oder gar mit dem Roller abgeholt.

Das alles ist Teil eines neuen Ansatzes im Kampf gegen Schwänzer und Schulabbrecher. Özlem hat mal wieder die Nase voll. Sie kann sich nicht konzentrieren, steht auf und geht.
Aber nicht nach Hause, wie früher, sondern in den schuleigenen Boxraum. Özlem lässt Dampf ab bei Trainer Karim – mitten im Unterricht. Früher war das anders.

Özlem, 18 Jahre, Hauptschülerin: „Meistens hab ich dann auch Blödsinn gemacht in der Schule. Da gab es dann immer Ärger auch.“

Reporterin: „Was für Blödsinn?“

Özlem: „Irgendwelche Kinder ärgern oder den Unterricht stören, reinplatzen.“

Geschenkt bekommt Özlem ihr Boxen übrigens nicht – den Unterricht muss sie später nachholen.

Auch Christian darf während des Unterrichts die Klasse verlassen. Im schuleigenen Berufszentrum macht er sich schlau über seinen neuen Traumjob: Fahrzeuglackierer.
Vor kurzem verfolgte er noch eine ganz andere Karriere, die des jugendlichen Intensivtäters.

Christian, 17 Jahre, Hauptschüler: „Ihr müsst Respekt vor mir haben. Ihr müsst Angst vor mir haben. Und das wollte ich damals erreichen, dass die Leute Angst und sehr viel Respekt vor mir haben. Nur dann habe ich durch diese ganzen Projekte beim Herrn Clemens gelernt, dass diese Gewalt eigentlich nur Schwachsinn ist, sondern ein kluger Mensch kriegt sehr viel Respekt von Menschen geschenkt, als wie ein Mensch, der dumm ist und aggressiv.“

Einfach abhauen, wenn’s schwierig wird – diesem Impuls können die Schüler hier zwar nachgeben, bleiben aber unter Kontrolle. Der Lohn: die Abbrecherquote ist von 15 auf nur noch drei Prozent gesunken.

Manfred Paul, Schulleiter: „Die Leistungen werden wirklich besser. Und die Quoten der Abschlüsse haben sich erhöht. Wir haben nicht mehr so viele Jugendliche, die wir ohne Hauptschulabschluss oder ohne Schulabschluss aus der Schule entlassen.“

Es ist ein Bohren dicker Bretter. Auch in Gelsenkirchen kümmert man sich intensiv um mögliche Schulabbrecher. Seit zwei Jahren ist man Ganztagsschule, kooperiert mit der heimischen Wirtschaft.

Vor allem aber haben sie ihn. Volkmar Kirchner, den Sozialpädagoge der Schule. Jederzeit können die Schüler mit ihren Problemen zu ihm kommen, Vertraulichkeit garantiert.

Schüler: „Wir haben hier einen, mit dem wir reden können, Herrn Kirchner, von der Sozialkompetenz. Der redet dann mit jedem Einzelnen von uns.“

Reporter: „Fühlt Ihr Euch dadurch ernster genommen?“

Schüler: „Die nehmen uns auch ernst hier, der Herr Kirchner. Mit dem kann man sich auch ganz gut verstehen.“

Dies sei eine gute Schule, sagen selbst die harten Jungs. Und in der Tat: In beiden Hauptschulen ist die Abbrecherquote gesunken und mit ihr die Gewalt.

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