Hartz IV und das größte Sozialamt der Republik

Ab ersten Januar soll es gelten, das neue Arbeitslosengeld II, als Teil des so genannten Hartz IV-Gesetzpakets. Die Frage ist bis jetzt: Klappt das denn auch oder gibt es mit der technischen Abwicklung, der Computersoftware und vielem anderen Probleme? Sicher ist: Bislang werden zu wenig der neuen Antragsformulare ausgefüllt und vielen ist das zu schwierig. Wir wollten uns mal informieren wie der aktuelle Stand ist und ob da ein soziales wie politisches Desaster drohen könnte oder nicht. Ort: die größte Außenstelle der Bundesagentur für Arbeit und des größten Sozialamts der Republik in Berlin, Stadtteil Neukölln. Jürgen Osterhage hat es besucht.

Das größte Sozialamt Deutschlands: Leere Flure, kein Publikumsverkehr. Wegen der Einführung von Hartz IV wird das Sozialamt in Berlin-Neukölln ab kommenden Montag praktisch geschlossen – und das vier Wochen lang. Nur für Notfälle gibt es noch Notfallsprechstunden. Veranlasst hat diese drastische Maßnahme der Chef Michael Büge. Er ist verantwortlich für mehr als 40.000 Sozialhilfeempfänger. Die Einführung von Hartz IV, die in Neukölln verspätet begann, bezeichnet Büge als Ritt auf der Rasierklinge.

Michael Büge, Chef Sozialamt Berlin Neukölln: „Das einzige, das wir nicht beeinflussen können, ist die Zeit, die uns bis Ende des Jahres zur Verfügung steht. Und die wird nach der verspäteten Einführung sehr, sehr knapp.“

Die Mitarbeiter tun ihr Bestes. Die Einführung von Hartz IV bedeutet für sie einen unglaublichen Kraftakt. Problem Nummer eins: die Software. Die Anträge für das neue Arbeitslosengeld II müssen im Computer gespeichert werden. Das sind Millionen von Einzeldaten – eine Mammutaufgabe. Deshalb bleibt das Sozialamt auch geschlossen.

Michael Büge: „Bestimmte Daten können so, wie sie eigentlich abgefragt werden, gegenwärtig noch nicht eingegeben werden. Und da ist unsere große Sorge, dass wir zwar eine Zahlbarmachung realisieren werden können, d.h. dass die Leute, die einen Antrag gestellt haben, am Ende auch ihr Geld bekommen. Aber es muss vermutlich nachgearbeitet werden, weil die Menschen entweder zuviel oder zuwenig Geld bekommen haben könnten.“

Draußen vor der Tür erleben wir die Menschen, für die Hartz IV gemacht worden ist. Berlin-Neukölln ist ein problematischer Bezirk. Die Arbeitslosenquote liegt bei über 23 Prozent. Die Kombination von hoher Armut und hoher Ausländerquote auf engem Raum sorgt für sozialen Sprengstoff.

Umfrage bei Sozialhilfeempfängern:

– „JA, Hartz IV ist nicht so gut in Neukölln, es gibt viele Arbeitslose und wenn Hartz IV kommt, gibt es eine Katastrophe. Die Jugendlichen werden nicht so gute Perspektiven haben und werden mehr kriminell.“

– „Arbeit bekommst du sowieso nicht. Bei meinem Alter ist das ziemlich schwierig.

-„Ist nicht wirklich was los auf dem Arbeitsmarkt. Aber daran denkt wahrscheinlich keiner.“

Problem Nummer zwei: die Anträge. Die 16 Seiten umfassenden Fragebögen für das neue Arbeitslosengeld sind vielen zu kompliziert. Zwar gibt es viele Beratungsstellen, aber es bleiben Hürden. Dazu kommt die Unsicherheit.

Sabine Barthel, Sozialamt Neukölln: „Die meisten rufen auch an und sagen, ich habe große Bauchschmerzen, ich kann nicht mehr. Der Antrag, das ist zuviel für mich.“

Ein paar Straßen weiter befindet sich das Arbeitsamt Berlin-Süd, neuerdings Agentur für Arbeit genannt. Dort treffen wir den Chef, Konrad Tack. Er verantwortet für Hartz IV die Langzeitarbeitslosen. Seine Sorge: Die Rücklaufquote der Anträge – Problem Nummer drei.

Konrad Tack, Chef Agentur für Arbeit Berlin-Süd: „Das größte Problem liegt darin, dass wir nach wie vor einen schleppenden Antragsrücklauf haben. Das heißt, wir müssen alle bitten, die ihre Anträge zugeschickt bekommen haben, die auch zurückzuschicken.“

Das passiert zu wenig. Hartz IV führt die Agentur für Arbeit und das Sozialamt zusammen. Künftig sollen die arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger und die Langzeitarbeitslosen in so genannten Jobzentren gemeinsam betreut werden. Das führt zu Problem Nummer vier: der Förderung.

Michael Büge: „was leider noch zu kurz kommt, ist der Aspekt des Förderns. Da sehe ich große Schwierigkeiten auch im Jahre 2005, wenn die Jobcenter auch hier in diesem Gebiet gegründet sein werden.“

In diesem Gebäude gegenüber der Agentur für Arbeit in Berlin-Neukölln soll das neue Jobcenter entstehen. Das Gebäude muss noch renoviert werden. Überdies fehlt das nötige Personal – Problem Nummer fünf. Mindestens 250 Stellen sind bisher nicht besetzt.

Michael Büge: „Wenn ich aber den Aspekt des Förderns mangels Personal und mangels ausreichender Fördermittel nicht auf den Weg bringen kann, dann werde ich am Ende nichts anderes haben als eine Umorganisation von Sozialleistungen. Zwar an einem Ort mit kürzeren Wegen für die Menschen, aber weiterhin ohne Perspektive in die Zukunft.“

Einführung von Hartz IV – eine Momentaufnahme in Berlin-Neukölln. Es gibt keine Puffer – keine personellen und erst recht keine zeitlichen. Von den Problemen und Sorgen derjenigen, die von Hartz IV betroffen sind, ganz zu schweigen.

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